Männliche Unfruchtbarkeit: Die versteckte Pandemie

Gastbeitrag
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08/07/2023
Foto: Nat Urazmetova

Immer mehr Männer in der westlichen Welt können ohne medizinische Hilfe keine Kinder mehr zeugen. Die Wissenschaft steht vor einem Rätsel, während der Staat das Problem vollständig ignoriert. Reproduktionsmediziner schlagen Alarm. Der Autor Benedikt Schwan hat am eigenen Leib erfahren, was das tatsächlich bedeutet. Er ist Journalist in Berlin und ein zeugungsunfähiger Mann, seit demnächst 17 Jahren ist er glücklich verheiratet.

Für einen Vater, dessen Kind stirbt, stirbt die Zukunft. Für ein Kind, dessen Eltern sterben, stirbt die Vergangenheit.

Moses Baruch Auerbacher

Diese Worte des deutschen Schriftstellers Moses Baruch Auerbacher sind das Eingangszitat meines Buches "Ohnekind", das sich mit männlicher Zeugungsunfähigkeit beschäftigt. Und sie stehen für das, was Hunderttausende Männer durchmachen, die Opfer von Unfruchtbarkeit sind: Ihnen geht nicht weniger als die Zukunft verloren.

Als ich mit den Recherchen zu meinem Buch begonnen habe, war mir nicht klar, welche Dimensionen dieses Problem hat. Ich kam einfach nur selbst in diese Situation. Mit 41 hatte meine Frau und ich, nach unzähligen Versuchen, schwanger zu werden, endlich ein Kinderwunschzentrum aufgesucht, um uns untersuchen zu lassen. Das Ergebnis des Spermiogramms traf mich wie ein Schlag: Es fand sich keine einzige Samenzelle in meinem Ejakulat. Die Diagnose nennt sich Azoospermie. Sie steht dafür, dass im Erguss alle Spermien fehlen oder nahezu keine gefunden werden können.

Reise zu einem verdrängten Weltproblem

Da ich mich mit dieser Diagnose weder abfinden wollte noch genügend Informationen darüber hatte, was da genau mit mir vorging, begann ich zu recherchieren. Als Technik- und Wissenschaftsjournalist ist das mein tägliches Brot - und ich gebe zu, dass es auch eine Form von Ablenkung oder Flucht aus meinem Schicksal war. Letztlich reiste ich für "Ohnekind" durch die halbe Welt, besuchte etwa Wissenschaftler in Israel, medizinische Praktiker in New York, Bevölkerungsforscher in Japan, glückliche Mehrfachväter Mitte 20 in Norwegen und schließlich auch noch einen fundamentalistischen Mormonenführer im kanadischen Hinterland, der 150 Kinder gezeugt hat.

Meine Fazit aus all der Recherchearbeit ist dies: Männliche Unfruchtbarkeit ist längst eine Pandemie. Während Politiker und Nachhaltigkeitsaktivisten noch davon sprechen, dass wir in eine Überbevölkerungsfalle laufen, schrumpfen die meisten Länder des Westens, wenn wir Einwanderung abziehen. Die Erhaltungsrate - also die notwendige Anzahl an Geburten, damit die Bevölkerung zumindest nicht zurückgeht - wird selten erreicht, oft signifikant unterschritten. Parallel dazu sind Zentren, in denen künstliche Befruchtungen angeboten werden, überlaufen, weil immer mehr Paare auf natürlichem Weg keine Kinder mehr bekommen können. Dies ist mit erheblichen finanziellen, sozialen und psychologischen Belastungen verbunden.

Lange gab man vor allem den Frauen die Schuld, wenn es mit dem Nachwuchs nicht klappen wollte. Tatsächlich sind auch die "Kinderwunschzentren", wie wir Fruchtbarkeitskliniken heutzutage meiner Meinung nach fast euphemistisch kennen, stark auf die Frau ausgerichtet. Sie trägt die Hauptlast bei der Therapie, sie kriegt die Hormone, muss sich invasiven Behandlungen und Eingriffen unterziehen. Der Mann gibt bestenfalls sein Sperma ab, schlimmstenfalls muss, wenn er wirklich komplett zeugungsunfähig ist, eben Fremdsperma her.

Spermienkonzentration halbiert – und niemand weiß warum

Ein erster wichtiger Datenpunkt meiner Recherche war eine Metastudie des israelischen Epidemiologen Hagai Levine, die 2017 erschienen ist und weltweit für Aufsehen gesorgt hat. Er sammelte mit seinem Team in einer akribischen Literaturrecherche zahllose Studie seit den Siebzigerjahren, in denen Spermiogramme erfasst waren. Es kamen schließlich 185 Studien mit 244 validen Einschätzungen der Spermienkonzentration und der Gesamtzahl der Spermien in einer Probe heraus, die das Team dann einer Metaregressionsanalyse zuführte. Das Ergebnis war erschreckend. Über die letzten viereinhalb Jahrzehnte ging die Spermienkonzentration in den westlichen Ländern um 52 Prozent zurück. Mittlerweile kam eine Nachfolgestudie heraus, die die Datenbasis signifikant erweitert und auch Länder des globalen Südens einschließt. Die Lage ist noch dramatischer geworden.

Woran das liegt, weiß man nicht – und es wird leider auch nur sehr milde erforscht, weil es ein unsagbar kompliziertes Feld ist. Levine selbst spekuliert, dass die Menschen schon sehr lange der chemischen Revolution ausgesetzt sind, inklusive Pestiziden, Kunststoffprodukten und Belastungen mit Schadstoffen. Probleme mit der Zeugungsfähigkeit begännen zumeist im Mutterleib, wo sich die samenproduzierenden Organe fehlerhaft entwickelten. Schlimm ist auch das Folgende: Die Spermienkonzentration hat Vorhersagekraft über den gesamten Gesundheitszustand des Mannes. Mir riet der Forscher, regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen und meinen Körper pfleglich zu behandeln. Das versuche ich, mit ordentlicher Ernährung und Laufen. Aber die Angst bleibt.

Im Sommer 2020 verfasste eine Gruppe renommierter deutscher Reproduktionsforscher einen bemerkenswerten Aufruf, der leider in den Medien viel zu wenig Resonanz gefunden hat. Im "Essener Manifest" wird die deutsche Bundesregierung dazu aufgefordert, endlich genügend Forschungsgelder in die Hand zu nehmen, um die Gründe der zunehmenden Unfruchtbarkeit zu entlarven. Denn aktuell ist in meinem Heimatland das Gegenteil der Fall: Einrichtungen müssen sogar mit Budgetkürzungen leben oder werden ganz abgewickelt. Die öffentliche Wahrnehmung und das Problembewusstsein bei der Bevölkerung für die reproduktive Gesundheit sei gering und entspreche nicht ihrer gesellschaftlichen Bedeutung, heißt es in dem Papier.

Die Reproduktionsmedizin boomt

Jörg Gromoll vom deutschen Centre of Reproductive Medicine and Andrology, der zu den Hauptautoren zählt, sagte mir im Interview, die assistierten Reproduktionstechniken, die heute gegen Unfruchtbarkeit eingesetzt werden, seien "ein laufendes Experiment, dessen Folgen erst in Generationen abgeschätzt werden kann". Und: "Eine unabhängige wissenschaftliche Evaluierung der Techniken und Mittel findet nicht mehr statt." Die hochattraktive Ertragssituation der Reproduktionsmedizin decke alles zu. "Ohne Forschung kein Erkenntnisgewinn", sagt Gromoll. Es sei mehr als dringend erforderlich, die universitäre Reproduktionsforschung zu stärken – in Deutschland und anderswo.

In jüngeren Untersuchungen geht man davon aus, dass ungefähr sieben Prozent aller Männer im reproduktionsfähigen Alter zeugungsunfähig sind. Man sagt außerdem, dass in mindestens der Hälfte alle Fälle in denen ein Paar keine Kinder bekommen kann, der Mann zumindest beteiligt ist. Was hier so relativ nebulös klingt, ist sicherlich nur die Spitze des Eisbergs. Und das begründet sich dadurch, dass wir bislang viel zu wenig Daten haben – und diese auch nicht sammeln. Dass ein Mann unfruchtbar ist, erfährt dieser normalerweise erst dann, wenn es eben NICHT klappt.

Es gibt keine echten "Männerärzte", mit denen wir ein lebenslanges Verhältnis aufbauen, wie es das in der Gynäkologie gibt. Dabei müsste es meiner Meinung nach Reihenuntersuchungen geben mit Eintritt der Pubertät – also Spermiogramme von jedem Jungen, standardmäßig, automatisch. Dann wüssten wir tatsächlich frühzeitig, wie viele Männer zu wenig Spermien haben oder eben – wie bei mir – gar keine. Wir könnten frühzeitig eingreifen, denn es gibt durchaus Erkrankungen wie das Klinefelter-Syndrom, bei dem eine rechtzeitige Behandlung Unfruchtbarkeit vermeiden oder mildern kann. Zudem sind Kinderärzte oft nicht ausreichend eingriffsbereit, wenn es im Säuglings- bis Kleinkindalter zu Problemen mit den Reproduktionsorganen von Jungen kommt. Eltern sollen hier spezifisch darauf pochen.

Wir wissen viel zu wenig, wollen wir es nicht wissen?

Früher, als es in Deutschland noch eine Wehrpflicht gab, schaute zumindest mit 17 oder 18 Jahren ein Arzt auf den Hoden der Männer – bei der sogenannten Musterung. Das passiert nicht mehr. Und so kommt es, dass in Deutschland  Millionen Männer herumlaufen, die keine Ahnung haben, dass sie womöglich an einer Zeugungsunfähigkeit oder einer Zeugungseinschränkung leiden, weil ihr Hoden aufgrund verschiedener Erkrankungen nicht die korrekte Form hat oder ein anderes physiologisches Problem vorliegt, das ein Fachmann erkannt hätte. Man würde all dieses Leid früherkennen, wenn man nur darauf schauen würde. Aber wir schauen einfach nicht. In Österreich ist das leider ganz genauso.

Bei mir selbst gibt es übrigens keine guten neuen Nachrichten. Meine Azoospermie ist bis heute nicht abgeklärt. Sie könnte vererbt sein; typische Krankheiten, die eine solche auslösen, hatte ich nicht. Ich bin Teil einer großangelegten Genstudie an der Uni Münster, die vom sehr engagierten Professor für Reproduktionsgenetik, Frank Tüttelmann, durchgeführt wird. (Er ist übrigens hierzulande in Deutschland der erste seines Fachs, was viel aussagt über die (Nicht-)Wichtigkeit, die die Forschungsbürokratie diesem Thema aktuell zumisst.)

In Tüttelmanns Untersuchung wird immer wieder nach neuen Kandidatengenen gesucht, die für männliche Unfruchtbarkeit verantwortlich sein könnten. Bislang gibt es bei mir keinen Treffer. Der Studienleiter will mich kontaktieren, sobald sich das ändert. Bis dahin bleibt die Ungewissheit, warum herrgottnochmal mich dieses Schicksal befallen hat. Vielen anderen Männern geht es genauso: Die Mehrzahl weiß nicht mal, warum sie unfruchtbar ist. Und sie leidet zumeist still vor sich hin, weil das Thema so verdammt tabuisiert wird. Dabei sind sie keineswegs allein – leider ganz im Gegenteil.

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