Auf einen Kaffee mit Rainer Juriatti von"Mein Sternenkind"

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28/10/2022

Vor ziemlich genau sechs Monaten habe ich in den Vorarlberger Nachrichten einen Artikel entdeckt und geteilt: "Sternenkind: Wie verkraftet man eine Fehlgeburt?". Der Artikel stellt Vera und Rainer Juriatti vor, die Eltern von zwei erwachsenen Kindern und fünf Sternenkindern sind. Mit dem Projekt "Sternenkinder-Box" gingen die beiden sogar zu 2 Minuten - 2 Millionen - und konnten dadurch ihr neues Projekt "Mein Sternenkind" umsetzen. Dabei handelt es sich um eine Landkarte aller Angebote für Sternenkindangehörige in Österreich, Südtirol und Liechtenstein.

Foto: Puls4 Gerry Frank

Christina: Wie ist euer Projekt „Mein Sternenkind“ entstanden?  

Juriatti: Vor einigen Jahren erschien unser Buch „Die Abwesenheit des Glücks“. Es markiert jenen Moment, in dem wir nach mehr als 20 Jahren des Arbeitens „im Stillen“ durchaus ungeplant ans Licht der Öffentlichkeit traten: Wir reisten durch ganz Österreich, veranstalteten mit zwei wunderbaren Musikern Textkonzerte, traten im Fernsehen auf, wurden von Radiostationen und Zeitungen interviewt. Das Buch handelt von einem Vater, der sich eines Tages in den Garten setzt, um seinem Sohn dessen nie gelebte Biografie zu erzählen. Damit traf es den Nerv der Zeit. Es scheint auch, als wollten viele Sternenkindeltern ihr Schicksal nicht mehr schweigend hinnehmen und sie sind in großer Zahl zu unseren Veranstaltungen gekommen.

In dieser Zeit wandten wir uns besonders der Sternenkindfotografie zu. Dabei wiederum machten wir die Erfahrung, dass Sterneneltern für die Zeit nach einem Klinikaufenthalt nicht endlos viele Informationen brauchen, sondern vielmehr gezielt ausgewählte Adressen, die ihnen konkret weiterhelfen. Beispielsweise brauchen auch Frauen, die kein Kind im Arm halten, nach der stillen Geburt körperliche Nachsorge. Und ebenso brauchen Geschwisterkinder Hilfe, wie auch Eltern psychologische Unterstützung brauchen können. Solche Adressen speziell für Sternenkindeltern sind schwer zu recherchieren. Und so haben wir das übernommen. Nicht zuletzt gab es bis damals kein vollständiges Verzeichnis über Gedenkorte. So entstand zunächst die sogenannte Sternenkindbox (siehe https://blog.mein-sternenkind.net/service), daraus wiederum entstand das online-Adressverzeichnis, das sich an den Bundesländern Österreichs wie auch den Regionen Liechtenstein und Südtirol orientiert: Man findet unter https://mein-sternenkind.net auf einer Landkarte alle Adressen in jeweils jenem Umkreis, in dem man lebt.

Sternenkinder-Box

Ihr ward bei „2 Minuten 2 Millionen! Wie war das für euch, gerade mit diesem emotionalen Tabu-Thema auch ins Fernsehen  zu gehen – noch dazu in einer Show, wo sich niemand dieses Thema erwartet?

Uns wird manchmal vorgeworfen, wir agierten zu sehr in der Öffentlichkeit. Wir empfinden das als Kompliment dafür, dass wir erfolgreich dorthin gehen, wo man uns nicht erwartet. Vor einigen Monaten wurden wir dank vieler Menschen, die für uns stimmten, zu „Köpfen des Jahres“ im sozialen Bereich in der Steiermark gewählt. Bei der Schlussveranstaltung waren natürlich ganz viele prominente Menschen anwesend, die das Thema „Sternenkinder“ niemals dort erwartet hätten. Nach der Preisübergabe kamen unzählig viele von ihnen auf uns zu, die sich als Sternenkindeltern „outeten“ und uns - man spürt das - von Herzen gratulierten.

Und so erschien es uns auch wichtig und notwendig, zur Puls4-Show zu gehen. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es die Seite www.mein-sternenkind.net nicht und es hätte sie ohne diese Sendung auch niemals gegeben,  da alle unsere Förderungsansuchen negativ beantwortet wurden. Und in der Show saß Philipp Maderthaner, der die Hilfsseite im Wert von 32.000 Euro mit seinem Team im Campaigning Bureau in Wien dann gratis umsetzte. Diesem Mann ist seitens der Sternenkindhilfe Österreich lebenslang zu danken. Wir wussten zugleich: Nur in einer Show wie „2 Minuten 2 Millionen“ erreichen wir mit unserem Thema ein Millionenpublikum, zu dem wir ungestört sprechen können. Die Sendung war ein echter Meilenstein für die Thematik, das können wir anhand der Fakten historisch verankern, denn die Internetseite, die jeden Tag hundertfach angeklickt wird, ist ja eine Tatsache, also eine dauerhafte Einrichtung geworden.

Ist deiner Meinung nach das Thema Fehlgeburten mittlerweile bekannter und anerkannter?

Aus obigen Schilderungen ist abzulesen: Ja. Ich denke, dass einfach die Zeit reif dafür ist, öffentlich darüber zu sprechen und das Ende des Tabus auch einzufordern. Am 30. September  haben wir hier in Graz die erste österreichweit ausgeschriebene Expertinnentagung zum Thema abgehalten. Großartig ist das Echo darauf, es kamen sogar aus Italien und Slowenien Expertinnen in die Steiermark. Die Menschen – seien es Expert*innen oder Betroffene – wollen darüber reden, wollen mehr Klarheit gewinnen, sind sich der Auswirkungen auf unser aller Leben viel deutlicher bewusst. Man kann sagen: Vielleicht machen wir ethisch gerade einen großen Schritt.

Das Autorenpaar Juriatti

Stichwort Tagung: Was wurde eurerseits erwartet und worüber wurde konkret gesprochen?

Die Themen orientieren sich an der „Dramaturgie“ von Sternenkindeltern. Wir haben uns intensiv mit den Fragen nach Traumatisierungen und deren Bewältigung auseinandergesetzt, das Treffen diente aber vor allem dem persönlichen Kontakt, der heute wertvoller denn je geworden ist. Die Tagung wandte sich nach Impulsreferaten zu Körper-, Psyche- und Sozialthemen in ausführlichen Clubgesprächen besonders den strukturellen Lösungen zu, die wir auf politischer Ebene anstreben. Wir leben immer noch in einer Gesellschaft mit sozialen Rahmenbedingungen, in denen die Sternenkindhilfe nicht nur in den Bundesländern unterschiedlich bewertet wird, sondern bis hin in die Regionen und nicht zuletzt lokal vollkommen unterschiedlich gewichtet wird. Mit einem Lächeln sei bemerkt: Ethischen Erkenntnissen gilt es auch durch Verordnungen und Gesetze zu entsprechen.

Was sind eure Pläne für die Zukunft?

Vor einigen Monaten sprachen Vera und ich beim Gesundheitsminister vor. Er nahm sich eine halbe Stunde, um unseren Status Quo zu erfahren. Auf diesem bauen wir nun auf: Mit dem Know-How der Herbsttagung möchten wir gemeinsam mit allen, die auf www.mein-sternenkind.net als Experte*innen eingetragen sind, ein strukturelles Positionspapier erarbeiten, das den Gesundheitsressorts der Landesregierungen sowie dem Gesundheitsminister zur Verfügung gestellt werden kann.

Ziel ist es, die Qualität der Sternenkindhilfe in den österreichischen Kliniken einheitlich auf ein höheres Niveau zu setzen, als dies derzeit in manchen Häusern der Fall ist. Es soll eine Checkliste geben, die den Betreuungsverlauf bei einer stillen Geburt regelt, so, wie es Regelungen bei den Abläufen einer Blindarm-Operation oder einem sonst alltäglichen Eingriff gibt. Schaffen wir es, eine Checkliste zu etablieren, dann wäre eine fast dreißigjährige Etappe unseres Lebens geschafft und wir könnten uns ein wenig zurücklehnen.

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